Mathematik und Naturgesetze
Die größte Limitierung des Verstandes ist seine auf wenige Elemente beschränkte diskrete Arbeitsweise, welche der Realität mit ihrem unendlichen Umfang, ihrer gigantischen Komplexität und kontinuierlichen Dynamik eigentlich vollkommen machtlos gegenübersteht. Aber dann geschah dem Verstand etwas absolut Magisches: die Mathematik!
Mir ist klar, dass diese Euphorie in Bezug auf die Mathematik auf keine besonders große Resonanz stößt. Tatsächlich aber stellt die Mathematik in der Entwicklung des Verstandes einen zentralen Schlüssel dar. Sie liegt nahezu allem zugrunde, was man an positiven rationalen Entwicklungen des Menschen aufzählen könnte. Die Mathematik ist ein Werkzeug, welches dem Verstand ermöglicht, seine größte Limitierung partiell zu überwinden:
Die Mathematik ermöglicht es dem diskret arbeitenden Verstand, Komplexität und Kontinuität mit seinen diskreten, begrenzten Möglichkeiten zu beschreiben.
Mit ein paar wenigen Parametern und mathematischen Operatoren lassen sich in Formeln kontinuierliches dynamisches Verhalten und komplexe statische Strukturen beschreiben, deren Handling die Möglichkeiten des Verstandes ohne Mathematik bei weitem übersteigen würde.
Die Mathematik öffnet dem Verstand den Zugang zu Komplexität und Kontinuität - allerdings nur für einen ganz bestimmten Teilbereich der Realität - nämlich zu dem Bereich der Realität, dessen Verhalten sich mathematisch exakt beschreiben lässt:
Es handelt sich um das Verhalten einzelner materieller Elemente und einfacher materieller Systeme, das sich mit Hilfe der Mathematik vollkommen exakt beschreiben lässt. Die exakte Beschreibung des Verhaltens lebloser Materie in einfachen Konstellationen mit Hilfe der Mathematik entspricht den Naturgesetzen.
Das wäre die exakte Definition der Naturgesetze. Irreführender Weise wird der Begriff aber im Zusammenhang mit der Verabsolutierung der Wissenschaft in unzulässiger Weise überstrapaziert. Natürlich könnte man sagen: "Jede Gesetzmäßigkeit, die man irgendwie in der Natur vorfindet, ist ein Naturgesetz." Das ist aber nicht hilfreich, weil dadurch Dinge in einen Topf geworfen werden, die unterschiedlich gehandhabt werden müssen, wie zum Beispiel:
- leblose Materie und Lebewesen
- Systeme mit einem (aus praktischer Sicht des Menschen) vollständig gesetzmäßigen Verhalten und Systeme mit einem signifikant unbestimmten Verhaltensanteil (Verhalten, das teilweise zufällig erscheint)
Naturgesetze in ihrer exakten Definition, wie sie hier verwendet wird, haben folgende Merkmale:
- Sie beschreiben das Verhalten lebloser Materie
- in einfachen überschaubaren Konstellationen mit vollständig bestimmtem Verhalten
- vollkommen exakt mit Hilfe der Mathematik.
Dazu zwei Anmerkungen:
- Natürlich unterliegen auch Lebewesen in ihrer Körperlichkeit den Naturgesetzen. Insofern fallen sie mit unter die "leblose Materie" in allen Situationen, in denen ihr selbst-getriebenes Verhalten keinen Einfluss auf die zu beschreibende Situation hat.
- Die Beschreibung eines teilweise unbestimmten (zufälligen) Verhaltens mit Hilfe der Statistik fällt ausdrücklich NICHT in diese Definition, auch wenn die Statistik natürlich ein Teilgebiet der Mathematik ist. Zwar dient die Statistik dazu, den bestimmten Verhaltensanteil herauszufiltern, und so wenigstens diesen Teil nutzbar zu machen, aber sie bedeutet eben auch, dass es einen unbestimmten Verhaltensanteil gibt und damit ist das Verhalten nicht mehr vollständig bestimmt.
Auch die Naturgesetze haben laut Quantentheorie einen winzig kleinen Zufallsanteil. Theoretisch kann es in einer riesigen Anzahl von Anwendungen eines Naturgesetzes vorkommen, dass das Verhalten vom Naturgesetz abweicht. Dieser unbestimmte Verhaltensanteil ist in Naturgesetzen aber so unvorstellbar winzig klein, dass er für den Menschen bei der einfachen Anwendung praktisch keine Rolle spielt.
Das ist das Hauptunterscheidungsmerkmal der Naturgesetze gegenüber allen anderen Gesetzmäßigkeiten, die der Mensch in seiner Umgebung finden kann: Es gibt keinen signifikanten zufälligen Anteil. Naturgesetze gelten für den Menschen in einfachen (nicht komplexen) Konstellationen in vollständig unveränderlicher Weise.
Gesetzmäßigkeiten mit einem für den Menschen relevanten Zufallsanteil sind (im Sinne dieser Definition) KEINE Naturgesetze. Der Zufallsanteil bedeutet nämlich zweierlei:
- Wir kennen nicht die ganze Wahrheit über das so beschriebene Verhalten. (Zufall ist keine Tatsache, sondern Unwissenheit.)
- Es könnte sein, dass das, was zufällig erscheint, unbewusster Weise vom Menschen beeinflusst wird.
Beides ist bei Naturgesetzen nicht der Fall.
Die Entdeckung der Naturgesetze bildet den Ausgangspunkt in der Entwicklung der Wissenschaft und stellt gleichzeitig den eng begrenzten Anwendungsbereich dar, in dem die Wissenschaft als Erkenntnismethode tatsächlich zuverlässig und vollständig funktioniert.