Rationalisierung
Die Arbeitsweise des Verstandes ist diskret - nicht diskret im Sinne von verschwiegen (das ganz und gar nicht), sondern diskret im Sinne von auf eine begrenzte Anzahl von Elementen beschränkt - diskret als Gegenteil von stetig oder kontinuierlich: Der Verstand kann immer nur eine begrenzte Anzahl von Elementen gleichzeitig verarbeiten und zueinander in Beziehung setzen.
Die Realität lässt sich unterteilen in zwei Aspekte:
- den statischen Aspekt: der Zustand in einem ganz bestimmten, konkreten Moment
- den dynamischen Aspekt: die kontinuierliche Veränderung des Zustandes
Der Verstand ist eigentlich mit beiden Aspekten überfordert:
- Er kann schon die unendliche Komplexität allein des statischen Aspekts nicht erfassen.
- Und mit der Kontinuität des dynamischen Aspekts kann er gleich gar nichts anfangen.
Deshalb behilft er sich mit ein paar Tricks:
- Er beschränkt seine Betrachtungen auf jeweils einen Ausschnitt der Realität (zum Beispiel den menschlichen Körper).
- Er betrachtet auch von dem Ausschnitt nur bestimmte Aspekte. (Das nennt man Abstraktion, wenn man vom menschlichen Körper zum Beispiel nur das Skelett oder nur das Lymphsystem, nur die Blutbahnen oder nur die Muskeln betrachtet.)
- Er bildet die kontinuierliche Dynamik der Veränderung als eine Folge von einzelnen Zuständen ab - so wie wenn man aus einzelnen, hintereinander geschossenen Fotos einen ruckeligen Pseudofilm zusammenstellt.
Dieser Prozess, in dem eine unendlich komplexe Wahrnehmung auf ein rationales Abbild vereinfacht wird, stellt die eigentliche Rationalisierung dar. Die Rationalisierung ist der Ausgangspunkt der Verstandestätigkeit und die Grundlage für alle weiteren Schritte.
Ich hatte bereits das Problem der Identifizierung von Weltsicht und Realität erwähnt. Der Verstand hält auf der gegenwärtigen Stufe seiner Entwicklung seine Weltsicht für mit der Realität identisch. Entsprechend versucht er in seiner Weltsicht die Realität so vollständig und so exakt wie möglich zu erfassen. Das führt zu einer gigantischen Masse an Informationen, die zur diskreten Arbeitsweise des Verstandes in einem direkten Widerspruch steht. Die Masse an Informationen ist nur durch eine extreme Aufteilung der Informationen auf stark spezialisierte Experten zu bewältigen. Das wiederum führt zu einem Verlust an Übersicht und steht dem Erkennen übergeordneter Zusammenhänge direkt entgegen.
Das Problem ist die Wahrheitsdefinition der Wissenschaft, die direkt an den wissenschaftlichen Beweis gekoppelt ist: "Wahr ist nur, was wissenschaftlich bewiesen werden kann". Damit spielt sich die Frage von richtig und falsch komplett losgelöst von der eigentlichen Anwendung der Erkenntnis ab. Sie beschränkt sich auf den Bereich des sinnlich Wahrgenommenen ohne den Menschen selbst als Anwender von Erkenntnis einzubeziehen.
Wenn man den vollständigen Prozess betrachtet, ergibt sich folgendes:
1. Entstehung des Verhaltens in der Psyche
2. Anwendung von Erkenntnis
3. Rückwirkung der Resultate auf die Psyche: Es führt zur Erfüllung oder nicht.
Wenn man nun in Betracht zieht, dass Erfüllung das eigentliche, allem übergeordnete Ziel der Psyche ist, ergibt sich ein völlig anderer Wahrheitsbegriff:
Wahr ist, was für den Einzelnen in der Anwendung tatsächlich funktioniert - was bedeutet, dass Erfüllung erlangt wird.
Dieser Wahrheitsbegriff löst eine Vielzahl von Problemen:
- Er befreit den rationalen Verstand vom Zwang der Exaktheit und Vollständigkeit, der seiner Natur diametral entgegensteht. Mit diesem Wahrheitsbegriff kann man sich darauf konzentrieren, einfache, aber gleichzeitig hoch-wirksame Konzepte zu erschaffen, mit denen sich tatsächlich genau die Wirkung erzielen lässt, welche die Psyche so sehr braucht, um nicht in Sucht und Depression abzusaufen.
- Er löst auch das im letzten Kapitel beschriebene Problem der Widersprüche: Egal, was auch immer theoretisch geschlussfolgert wird - wahr ist nur, was in der Anwendung zu echter Erfüllung führt.
- Und er löst das Problem der guten Vorsätze und des richtigen Verhaltens, dem man nie gerecht werden kann, denn er ist nur erfüllbar, wenn man wissenschaftliche Erkenntnis mit den inner-psychischen Gesetzmäßigkeiten in Zusammenhang bringt, die bestimmen, welches Verhalten die Psyche überhaupt erzeugen kann.
Aus Sicht der Wissenschaft gibt es allerdings auch einen wesentlichen Nachteil: Dieser Wahrheitsbegriff ist subjektiv. Er bezieht sich auf den Einzelnen. Es gibt nicht mehr die eine Wahrheit für alle. Die Verantwortlichkeit wandert - zumindest teilweise - vom Experten zum Einzelnen.
Grundsätzlich spielt sich die Bildung rationaler Konstrukte zwischen folgenden beiden Gegenpolen ab:
- Exaktheit und Komplexität auf der einen Seite
- stehen der Zugänglichkeit für viele Menschen und der einfachen Anwendung gegenüber.
Die Frage ist allerdings, ob die Experten überhaupt wollen, dass ihre rationalen Schöpfungen von der Allgemeinheit überprüfbar sind.
Je besser ein Zusammenhang auf rationaler Ebene verstanden wird, umso einfacher lässt er sich darstellen.
Eigentlich sollte jede Wissenschaft einen ganz einfachen Zugang für jeden Interessierten bieten. Das genaue Gegenteil ist aber der Fall: Eine intellektuelle Elite setzt sich auf ziemlich arrogante und ignorante Weise vom Denken der Allgemeinheit ab.